Der fast vergangene November ist traditionell der Monat der „langen Nächte“ der Bücher und des Lesens, von Überlingen über Salzburg bis Wien. Dabei fangen solche „Nächte“ im deutschsprachigen Raum meistens schon mittags an, im November geht die Sonne wenigstens so früh unter, dass nur wenige Veranstaltungen bei Tageslicht stattfinden.
Wer beruflich mit Büchern zu tun hat, übersieht oft, dass sich das Lesen wie auch das Leben nicht nur zwischen Buchdeckeln und auf Zeitungsseiten abspielt. Bei manchen Zeitungen (nicht nur einer!) steckt dahinter ein kluger Kopf, aber die wirklich gescheiten Köpfe schauen immer wieder über den Zeitungsrand.
Wer jedoch hinausgeht und sich nur zwischen Zeitungskiosk und Buchhandlungen bewegt, versäumt auch vieles, was in den Städten zu lesen ist – „he never sees the writing on the wall“ (The Universal Soldier, Buffy Sainte-Marie). Inschriften und Graffiti, Werbeplakate und in Bäume und Bänke geritzte Botschaften, … Die Tags, die von anonymen Sprayern an Mauern und Wänden hinterlassen werden, können nur die kleinen Szenen lesen, an die sie gerichtet sind – die Aussage „Kilroy was here“ war noch verständlicher.
Schon in meinen Studienzeiten hat jemand, vermutlich ein Dozent, über mich gesagt: Ihn kann man in einer fremden Stadt eine Stunde lang durch die Straßen laufen lassen, und er weiß über sie Bescheid. Im wörtlichen und im übertragenen Sinn hatte ich die Stadt gelesen.
Geschichten erzählen können aber auch unbeschriftete Mauern, wenn sie alt und zumindest teilweise unverputzt sind, können sie etwa sagen: „Dieses Haus wurde im Lauf von mehreren Jahrhunderten gebaut, zuerst aus Flusssteinen, nach einem Brand teilweise wieder aufgebaut und später mit Ziegeln aufgestockt.“
Ebenso kann man auch Landschaften lesen, wenn man ihre Zeichen erkennt und sie in die richtigen Zusammenhänge bringt. Dazu zitiere ich gerne den französischen Historiker Fernand Braudel (1902 – 1985), der in der Einleitung zu seinem Werk „L’identité de la France“ empfiehlt, bei jeder Reise durch Frankreich auf die Veränderungen zu achten, wo sich die Formen der Häuser und Dächer ändern, wo die Dächer anders gedeckt sind, etc.
Die Fähigkeit, Gesichter oder Gedanken zu lesen, haben nur wenige, und wer vorgibt, aus der Hand lesen zu können, beherrscht auch die Kunst, den Kunden Geld aus der Tasche zu ziehen, ohne diese zu berühren.
Im Anschluss an das Jahr, das ich in den späten 70er Jahren als „Sprachassistent“ (nicht als Kollege von Alexa!) im Languedoc verbracht habe, war ich nach dem Sommer noch drei Wochen lang bei der Weinlese – die Wahrheiten, die man aus dem Wein lesen kann, kamen aber erst später.