Von Schallplatten und Schweinen …
Ein Vortrag vor ein paar Tagen hat mich dazu angeregt, endlich mal meine Gedanken zum Thema „Digitalisierung“ zusammenzuschreiben.
„Digitalisierung“ ist für mich schon lange ein Reizwort, denn es gehört in der politischen Sprache zu den Schlagwörtern, die „mehr Wert als Bedeutung haben“, wie es der französische Lyriker und Essayist Paul Valéry Anfang der 30er Jahre für das Wort „liberté“ (Freiheit) formuliert hat – der Wörter, „die mehr singen als sprechen“. Das sind Wörter mit relativ beliebigem Inhalt, aber einem ganzen Haufen von positiven Konnotationen. Wer als Politiker das Wort „Digitalisierung“ wohldosiert in den richtigen Kontexten in seine Reden einbaut, hat das Publikum schon fast gewonnen.
Digitalisierung benennt im wörtlichen Sinn den Übergang von analogen zu digitalen Technologien, es ist aber auch eine Chiffre für die technologischen Veränderungen im Zeitalter der Globalisierung, im frühen 21. Jahrhundert, das Wort spielt so eine ähnliche Rolle wie „modernisation“ (Modernisierung) in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Frankreich, vor allem in den 80er Jahren, worüber ich ja vor gut 30 Jahren meine Dissertation geschrieben habe.
Für mich hat „Digitalisierung“ zunächst ganz praktische Bedeutungen:
Aus meiner Analogfoto-Zeit habe ich noch ein paar etwa 2000 Dias, von denen sicher hundert es wert sind digitalisiert zu werden, weil die fotografierten Objekte und Motive nicht mehr existieren oder es wichtige Zeitdokumente sind.
Von meinen Schallplatten höre ich immer wieder die eine oder andere, weil sie von Musikgruppen sind, die sich schon vor der Einführung der CDs aufgelöst haben.
Für publizistische Arbeiten mit geographischen Bezügen nutze ich an meinem Arbeitsplatz ständig die digitalen Landkarten (vor allem von Swisstopo für die Schweiz), unterwegs dagegen konventionelle Karten auf Papier, auf denen frühere Wanderungen und Touren mit Farbstiften eingetragen sind – das ist viel sinnlicher und übersichtlicher als die Karte auf einem winzigen Bildschirm in der Hand.
Über diese ganz praktischen Aspekte hinaus ist zu schauen, in welchen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens und der Wirtschaft in welcher Zeit was „digitalisiert“ wurde, welche Folgen es für die Arbeit und die wirtschaftliche Entwicklung hat etc. Und noch weitergehend: Ist die aktuelle Digitalisierung wirklich so ein qualitativer Unterschied zu den anderen technischen Innovationen und Revolutionen der letzten 200 Jahre, oder ist es nicht vielmehr ein fortlaufender Prozess von technischen Innovationen, mit denen die Arbeit immer wieder leichter und produktiver geworden ist?
Der Vortrag von Björn Böhning, Staatssekretär im Sozialministerium, am Mittwochabend (beim Neujahrsempfang der Konstanzer SPD) über das Thema „Digitale Arbeit: No work or new work?“ war eine wohltuende Abwechslung zu den sonstigen Politikerreden. Hier ging es um konkrete Schätzungen der Arbeitplatzentwicklung in den einzelnen Branchen, die von der Digitalisierung unterschiedlich betroffen sind, um die Anpassung des Arbeitsrechts an neue Formen der Arbeit, um bessere Arbeitsbedingungen für die „neuen Selbständigen“, unter anderem durch die Einführung einer Art von Mindestvergütung für Freiberufler.
Zur Digitalisierung fällt mir bei der Beschäftigung mit dem Thema auch der Mathematikunterricht in der Oberstufe ein. Da hatten wir einen sehr weit gebildeten älteren Herrn als Lehrer, der am Anfang der 11. Klasse sagte: „Wir machen im ersten Halbjahr noch nicht das, was im Lehrplan steht, sondern beschäftigen und nur mit 0 und 1. Das übliche Programm kommt danach etwas schneller.“ Es gab also eine gründliche Einführung in mathematische Logik, mit langen Exkursen in die Philosophie. Was ich mir am besten gemerkt habe, war die „Russell’sche Klasse“, die definiert ist als die „Menge aller Mengen, die sich nicht selbst als Element enthalten“. Wenn die heutigen Schüler+innen Glück haben, bekommen sie auch im „Zeitalter der Digitalisierung“ solche Lehrer+innen.
Was ich kürzlich auch in mein (analoges!) Notizbuch aufgenommen habe, ist die von Stefan Dudas ins Spiel gebrachte Formel vom „disruptiven Digitalisierungs-Schwein“, also der „armen Sau, die gerade durch die Management-Dörfer und durch die Wirtschaftsliteratur getrieben wird“ – wie eben auch seit Jahren durch den politischen Diskurs.